Es ist doch alles sehr kompliziert geworden. Irgendwie. Dies dürfte heute der Tenor sehr vieler Gespräche und Diskussionen über Erziehung und Geschlechterrollen sein. Die Ängste und die Verunsicherung darüber, was das Richtige ist, sind jedenfalls mit den Händen zu greifen.
Obwohl manches in dem Buch „Artgerechte Haltung“ von Birgit Gegier Steiner auf den ersten Blick „konservativ“ klingt, ist sie keine, die Mütter zurück an den Herd will. Sie schreibt darüber, dass Jungen anders seien und andere Bedürfnisse hätten. Damit bewegt sie sich mitten im Minenfeld der Polaritäten von Natur und Kultur, von Biologie und Medizin einerseits, von Sprache und Sozialem andererseits. Natürlich ist ihre Aussage eine Zuschreibung von Eigenschaften aufgrund des biologischen Geschlechts und damit nicht auf dem Stand der akademischen Debatte über Geschlecht. Daran möchte die 1960 geborene, langjährige Leiterin einer bewegungsorientierten Grundschule im Süden von Baden-Württemberg aber auch gar nicht teilnehmen.
Väter und Mütter bekommen ihr Fett weg
Sie meint, dass „Gleichberechtigung“ den Unterschied zwischen den Geschlechtern und den Angehörigen eines Geschlechts (für Steiner gibt es nur zwei Geschlechter, aber egal) respektiert. Sie plädiert für Gelassenheit und Werte und kritisiert die Abwesenheit von Vätern in der Erziehung. Sie führt weiter viele Beispiele auf, wie gerade Jungen anders und besser kognitiv und sozial lernen können: durch Bewegung, durch Musik, Rituale, durch, ja, Wettbewerb (und den dann nicht nur im Sport), und durch männliche Vorbilder. Jungen müssten, so die Autorin, sinn-voll (also mit den, bzw. allen Sinnen) lernen und „um sich greifen können“. Sie führt die Probleme auf, die speziell Jungs haben (etwa ab Seite 33) und nennt einige der bekannten, traurigen Zahlen: 50 Prozent der Grundschulkinder haben sowohl eine Spielkonsole und einen Fernseher – während Jungs oder auch Kinder heute außerhalb der Wohnung kaum einmal ohne Aufsicht durch Erwachsene sind. Last but not least bekommen auch die Mütter ihr Fett ab, in dem die drei verbreitetsten Beziehungsstörungen zwischen Müttern und ihren Söhnen vorgestellt werden.
Das Buch lebt aber von Erfahrungen der Autorin und ihren konkreten Beispielen; zum Sportunterricht, zum Thema „Lesen“ oder für das Zusammenleben zuhause. Für alle, die mit Jungen im Alter von bis zu ca. 12 Jahren zu tun haben, ist das Buch sicher interessant. Nach der Lektüre können alle Leser_innen ihre Begriffe wie Regeln, Team, Struktur und Zugehörigkeit überprüfen und darüber reflektieren, wie Empathie und diese speziell für das Aufwachsen von Jungen in der heutigen Welt denn genau aussehen könnte – und sollte. Die Diskussion über einen emanzipatorischen Umgang von Erwachsenen mit Kindern muss jedoch – und wird auch – weitergehen.
Bleiben nur zwei Fragen offen. Erstens die, ob Steiner nicht zu viel von ihrem sozialen Nahraum auf die Gesellschaft schlussfolgert? Denn zumindest in Bremen ist einiges dessen, das die Autorin als Forderung aufstellt, etwa rhythmisierter Ganztagsbetrieb an Grundschulen, bereits weit verbreitet. Zweitens, wer für diesen bescheuerten Buchtitel verantwortlich ist?
Birgit Gegier Steiner: Artgerechte Haltung. Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung, Gütersloher Verlagshaus 215, 256 S., 17,99 EUR
Text: Bernd Hüttner
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