Wer sich im Vorfeld der „Hair“-Premiere zu lange der Frisur und der Auswahl eines knallbunten Outfits gewidmet hatte, musste feststellen, dass die Bühnenbildnerin Irene Ip dies nicht getan hat. Bewusst sparsam geht sie mit Farben um. In dezentem Weiß kommt das Mammutprojekt daher, hier und dort flackern ein paar Pastelltöne auf. Die spartenübergreifende Produktion unter der Regie von Robert Lehniger punktet mit Beats statt Blumen. Zwar werden hier und dort die Mähnen geschwungen, als Protestmittel taugen diese aber nicht mehr. Schließlich schreiben wir nicht mehr das Jahr 1968, in dem das erfolgreiche Musical am Broadway uraufgeführt wurde. Das Ensemble befindet sich in Bremen, deshalb soll auch Lehnigers erste Musicalproduktion mit Botschaften aus der Hansestadt aufgeladen sein.
Wer also typisches Entertainment à la Musical vermutete, täuscht sich. Denn in dem Mammutprojekt, an dem Opernsänger, Tänzer und Schauspieler mitwirken, prallen Moderne und Flowerpower aufeinander. Zu sehen gibt es Protest im Mikrokosmos: In Videobotschaften erzählen Bremer von ihren praktizierten alternativen Lebensmodellen. Es sind Menschen, die ohne Geld oder Wohnung leben, Lebensmittel sammeln, ihr Einkommen mit der Gemeinschaft teilen oder keine Rentenversicherung haben.
Auf der Bühne wiederum steht Claude (Leon Ullrich) im Rampenlicht. Als junger Filmemacher schließt er sich einer Kommune an und hofft, dort dem Sinn des Lebens einen Schritt näher zu kommen. Seine Mitbewohner machen Yoga, lieben die Natur, sammeln für den Regenwald und praktizieren die freie Liebe. Unterhalten werden die mit vielen Bildern und Botschaften konfrontierten Zuschauer auch durch die neue musikalische Umsetzung: Elektro-Pop prallt auf die Bremer Philharmoniker und Opernsänger auf den 120 Mitglieder starken und extra gegründeten Bürgerchor. 400 Bremer hatten sich insgesamt für das gigantische Gesangsprojekt gemeldet.
Klassiker wie „Let The Sunshine In“, „Hair“ und „Aquarius“ ertönen stimmgewaltig und völlig neu arrangiert. Die Berliner Band Warren Suicide hatte sich dieser Aufgabe angenommen. Das Ergebnis ist die Auflösung aller Grenzen und Sparten: Tänzer werden zu Sängern, die Band mischt sich ins Schauspiel ein und die Videotechnik erobert sich Raum auf der Bühne. Erfrischend innovativ und ein Klangexperiment der Extraklasse entsteht, wenn Sinfoniker gegen verzerrte Elektroklänge, kratzige Beats und pumpende Bässe anspielen.
Ein klangstarkes Gesamtkunstwerk.
Nächste Aufführungen: Sonnabend, 5. Juli, 20 Uhr, Montag, 7. Juli, 19.30 Uhr, Freitag, 11. Juli, 19.30 Uhr, Sonntag, 13. Juli, 15.30 Uhr, Dienstag, 15. Juli, 19.30 Uhr, Donnerstag, 17. Juli, 19.30 Uhr, Sonnabend, 19. Juli, 19.30 Uhr und Sonntag, 20. Juli, 18 Uhr jeweils im Theater am Goetheplatz, die Spieldauer beträgt zwei Stunden ohne Pause
Text: Annica Müllenberg